Einblicke
Zwei Männer im Moor: Leben und Vergehen in unseren Feuchtgebieten
Stefan Ungricht
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – offenbar auch wenn es sich beim Vater um einen Nobelpreisträger handelt. Wohl jeder Chemiker kennt die Arrhenius-Gleichung, welche die Beziehung der Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten zur Temparatur beschreibt. Benannt ist sie nach dem schwedischen Physiker und Chemiker Svante Arrhenius, der 1903 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurde. Jeder Ökologe kennt seinerseits eine andere Arrhenius-Gleichung. Diese geht auf den Sohn von Svante, Olof Arrhenius, zurück und wird oft verwendet, da mit ihr auf einfache Weise Voraussagen gemacht werden können, wieviele Arten aufgrund eines Habitatsverlustes todgeweiht sind und aussterben werden. Doch bekanntlich sind Prognosen immer schwierig – besonders wenn sie die Zukunft betreffen.
«O, schaurig ists, übers Moor zu gehn» heisst es in der Ballade «Der Knabe im Moor». Etwas nüchterner betrachtet sind Moore einfach eine Ansammlung von gestorbenen Pflanzen, die sich aufgrund einer hohen Bodenfeuchtigkeit kaum oder nur sehr langsam zersetzen. Das Laub im Wald tut dies im Vergleich dazu viel schneller und bildet dabei auch gleich noch eine wertvolle Humusschicht. Das Resultat im Falle eines typischen Moors ist hingegen ein kohlenstoffreiches aber gleichzeitig nährstoffarmes Substrat sowie die Bildung einer Torfschicht. Diese Nährstoffarmut des Substrates hat zur Folge, dass oft nur speziell angepasste Pflanzenarten dort überhaupt ein Auskommen finden. Im Kanton Zürich war die Sumpfvegetation einst das prägende Element in den Ebenen der Limmat und vor allem auch der Glatt. Ursprünglich – bis zum Anlegen grösserer Ackerflächen – waren diese ausgedehnten Riedwiesen die grössten waldfreien Gebiete im Kanton. Durch die Ausbeutung des Torfes und durch die Drainage beziehungsweise die Trockenlegung der Sümpfe gingen aber viele Feuchtgebiete für immer verloren.
Für jedes komplexe Problem…
Der Rückgang der Moore und verwandter Feuchtgebietsvegetationen ist allerdings nicht nur in der Schweiz ein Problem. Auch etwa das riesige tropische Inselreich Indonesien, das sich über 5’000 km erstreckt, ist davon betroffen. Dies hat direkte und indirekte Auswirkungen auf die Biodiversität, den Kohlenstoffhaushalt und die Klimaregulation. Doch für ein nachhaltigeres Management der Flächen müsste überhaupt zuerst der Ist-Zustand ermittelt werden. Ausserordentliche Herausforderungen rufen nach ausserordentlichen Lösungsansätzen. Der Präsident des Landes, der studierte Forstwirt Joko Widodo, hat darum für eine innovative Kartierungsmethodik der Torfmoore und -sümpfe Indonesiens einen wissenschaftlichen Wettbewerb – den Indonesian Peat Prize – ins Leben gerufen. Preisgeld: Die runde Summe von einer Million Dollar.
Naturschutzbiologie – «conservation biology» auf Englisch – ist eine noch relativ junge Wissenschaftdisziplin. Eines ihrer meistdiskutierten Themen sind seit der ersten internationalen Konferenz im Jahre 1978 Hochrechnungen zum globalen Artenverlust durch den weltweiten Habitatsverlust. Prominente Wissenschafter wie Thomas E. Lovejoy, «the godfather of biodiversity», und Edward O. Wilson, Mitbegründer der Inselbiogeographie-Theorie, kamen zu spektakulären Ergebnissen, die auch in den Massenmedien gerne aufgegriffen wurden. Und obwohl sich die Disziplin natürlich weiterentwickelt hat, brauchte auch der 2016 verstorbene Ökologe Ilkka Hanski, der die fortgeschrittene Metapopulations-Theorie mitentwickelte, die einfache Beziehung von Artenzahl zu Fläche, die auf Olof Arrhenius zurückgeht, um lokale Aussterberaten zu prognostizieren.
…gibt es eine einfache Lösung…
Diese Arten-Flächen-Beziehung (auch Arten-Areal-Kurve genannt) ist quasi das Äquivalent der ikonischen Formel E=mc2 der Physik in der Ökologie und setzt eben die Artenzahl S eines Gebietes in folgende Beziehung zu dessen Fläche A: S=kAz. Obwohl der Exponent z je nach Situation etwas variieren kann, ist 0.25 ein typischer Wert und so lässt sich aus der Beziehung die einfache Faustregel ableiten, dass bei einem Habitatsverlust von 90% etwa 50% der spezialisierten Arten verschwinden. Basierend auf den Flächenverlusten des weltweit artenreichsten Habitats, des tropischen Regenwaldes, schätzte Wilson 1989 den globalen Artenverlust auf 4’000 bis 6’000 Arten pro Jahr (d.h. jeden Tag verschwinden demnach 10 bis 16 Arten) und bereits 1980 sagte Lovejoy gar ein Massenaussterben der Arten im Bereich von 15–20% bis zum Jahre 2000 voraus.
Im Gegensatz zu Indonesien, wo das Feuchtgebietsinventar erst noch zu erstellen ist, sind wir im Kanton Zürich in einer besseren Lage, was die Daten – insbesondere die historischen Daten – betrifft. Und auch der Wille zum Moorschutz ist bei uns heute wohl weitgehend unbestritten. Die detaillierten Inventararbeiten der beiden Zürcher ETH-Professoren Jakob Früh (1852–1938) zum Habitattyp Moor und Elias Landolt (1926–2013) zu den darin wie auch ausserhalb davon wachsenden Blütenpflanzenarten, erlauben es uns heute, ein recht genaues Bild über das Ausmass des Moorflächenrückgangs und dessen Folgen bezüglich Artenvielfalt zu gewinnen. Aktualisierte Flächenanalysen zeigen, dass heute im Kanton Zürich weniger als 10% der ursprünglich vorhandenen Feuchtgebietsfläche noch vorhanden ist. Damit ist der Habitatsverlust prozentual noch deutlich grösser als in verschiedenen Biodiversitätshotspots der Erde wie etwa in der Kapregion Südafrikas. Und tatsächlich listete Landolt in seiner letzten grossen Arbeit zu den Pflanzen des Sihltals denn auch verschiedene Feuchtgebietsarten als regional ausgestorben auf, wobei die ökologische Gruppe der Sumpfpflanzen nach den Unkraut- und Ruderalpflanzen die vom Artenschwund am zweitstärksten betroffene Gruppe ist.
…und die ist die Falsche.
Nichtsdestotrotz, ob lokal im Kanton Zürich oder global über die ganze Welt betrachtet: Obwohl die Primärhabitate stark reduziert wurden, werden deutlich weniger Extinktionen registriert, als dies durch die Theorie vorausgesagt wird. Wo liegt die Ursache für diese Diskrepanz? Insbesondere da neben dem Habitatsverlust ja leider noch weitere relevante Faktoren dazukommen. So reagieren Moorspezialisten etwa auch sehr empfindlich auf einen anthropogenen Nährstoffeintrag, welcher häufige, konkurrenzstärkere Arten bevorteilt.
Einerseits ist wohl eine unzulässige Verallgemeinerung in der Methodik dafür verantwortlich. In einem vielbeachteten Fachartikel in der Zeitschrift «Nature» haben die Wissenschafter Fangliang He und Stephen P. Hubbell dargelegt, dass durch die Anwendung der vermeintlich so simplen Beziehung zwischen Artenzahl und Artenareal ein systematischer Fehler resultiert, wodurch die offenkundig zu hohen Aussterbeereignis-Vorhersagen mindestens teilweise erklärt werden können.
Andererseits ist der Mensch nicht nur für das Verschwinden von einheimischen Arten verantwortlich, sondern er greift durch sein Tun vielmehr auch aktiv in die Gestaltung des vorhandenen Artenreservoirs ein. Beispielsweise wurden im 20. Jahrhundert in der Schweiz im Zuge einer wachsenden Umweltschutzbewegung zahlreiche «Biotope» quasi als Naturimitation geschaffen, um namentlich der bedrohten Amphibienwelt zu helfen. Um diese Ersatzhabitate zu gestalten, wurden dabei oft auch gebietsfremde Pflanzenarten verwendet.
In anderen Fällen mag auch einfach eine Gartenart entwischt sein, wie etwa im Fall der nordamerikanischen Art der Runzeligen Goldrute (Solidago rugosa), die in Mitteleuropa seit über 200 Jahren als Gartenpflanze (ein Kultivar trägt den passenden Namen «Fireworks») bekannt war. Professor Elias Landolt entdeckte diese Art dann erstmals während seinen Kartierungsarbeiten zur Flora des Sihltals in einem kleinen Naturschutzgebiet in Hirzel, wo sie offenbar schon mindestens 100 Jahre auch in der angeblichen «Natur» heimisch ist, wie dies einige (damals falsch bestimmte) Herbarbelege aus den Jahren 1918 und 1928 beweisen. Und über sein ganzes Florengebiet verteilt fand Landolt bei insgesamt 177 verschwundenen Arten eben auch 284 neu eingebürgerte Pflanzen, so dass unsere Flora im betrachteten Zeitraum von 160 Jahren gar artenreicher geworden ist.
Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben, warnen uns Naturschutzbiologen und sprechen von einer «Aussterbeschuld», die früher oder später zu begleichen sein wird – und dann werden die sehr seltenen und genetisch verarmten Populationen, die sogenannten «Living Dead», endgültig aus deren letzten Habitatsfragmenten im Kanton Zürich verschwinden.
In unseren eigenen Seiten
Egloff, F. G. (1977) Wasserpflanzen des Kantons Zürich. Vierteljahrsschrift, 122. 140 Seiten.
– Landolt, E. (1996) Änderungen in der Pflanzenwelt von Zürich und Umgebung. Festschrift zur 250-Jahr-Feier der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich. Seiten 190–203.
Empfohlene Bücher
– Hanski, I. (2005) The shrinking world: Ecological consequences of habitat loss. Excellence in Ecology, 14. 307 Seiten. [Zentralbibliothek Zürich]
– Lomborg, B. (2001) The skeptical environmentalist: Measuring the real state of the world. Cambridge University Press. 515 Seiten. [Zentralbibliothek Zürich]
– Quammen, D. (1996) The song of the dodo: Island biogeography in an age of extinctions. Scribner. 702 Seiten. [Zentralbibliothek Zürich]
Downloads und Links
Forum Biodiversität Schweiz (2007) Biodiversität in Feuchtgebieten. Hotspot, 15. 28 Seiten.
Forum Biodiversität Schweiz (2017) Auf den Spuren des Artensterbens. Hotspot, 36. 28 Seiten.
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