Einblicke

Zürichs erster Whistleblower? Wie der Glaube an Zahlen einen Pfarrer ins Verderben führte

Stefan Ungricht

Querkopf. Patriot. Zahlenjongleur. Aufklärer. Hochverräter. Dies sind nur einige der Attribute von Johann Heinrich Waser, einer überraschend aktuellen Figur des 18. Jahrhunderts in der Stadt Zürich. Statistiker haben ja heute gemeinhin nicht den Ruf ein besonders aufregendes Metier auszuüben. Der Fall Waser straft dieses Vorurteil Lügen.

Am Samstag, dem 27. Mai 1780 wurde Johannes Heinrich Waser, langjähriges Mitglied unserer Naturforschenden Gesellschaft—und vor allem eben auch ein passionierter Amateurstatistiker—um 11 Uhr morgens mit 12:8 Stimmen durch das Blutgericht des «Rates der Fünfundzwanzig», dem Kleinen Rat Zürichs, zum Tode durch das Schwert verurteilt, und noch am gleichen Tag auf dem Schafott ennet der Sihl öffentlich hingerichtet. Seine letzten Worte waren ein Gebet, und laut Zeugnis eines Zeitgenossen: “…kaum hatte er dieses gesagt, so lag der Kopf zu seinen Füssen. Auf den Stuhl hatte er sich so feste geklammert, dass der ganze Stuhl mit umfiel, als der Scharfrichter den Rumpf herunter stossen wollte.”

Das Jahr 2016 ist in Zürich—und weit darüber hinaus—ein Conrad Gessner-Gedenkjahr. In Artikeln, Sendungen, Ausstellungen und Büchern aus Anlass des 500. Geburtstags Gessners wird heuer an diesen Zürcher Universalgelehrten erinnert. Sowohl Gessner als auch Waser waren Vertreter der hiesigen Geisteselite in Zeiten des Umbruchs: Gessner als ausgebildeter Arzt in der Renaissance, kurz nach der Entwicklung des Buchdruckes und der Entdeckung Amerikas. Waser als ausgebildeter Pfarrer im Kontext des vorrevolutionären Europas während der Aufklärung.

Der Vergleich zwischen diesen beiden Stadtzürchern ist umso reizvoller, als sich ihre Persönlichkeiten offenbar stark kontrastierten. Auf der einen Seite der bescheidene, aufopferungsbereite Workaholic Gessner und auf der anderen Seite der aufbrausende, widerspenstige Behördenschreck Waser. So schattenfrei Gessners überliefertes Profil erscheint, so schillernd ist dieses von Waser.

Zwar waren beide gottesfürchtige Protestanten, und der unnütze Müssiggang lag ihnen wahrlich nicht im Blut. Und beiden war auch kein besonders langes Leben vergönnt—Gessner wurde keine 50, und Waser nicht einmal 40 Jahre alt. Ihre individuelle Reaktion auf die Unbill des Lebens unterschied sich aber radikal: Während Gessner alles Unheil als Wille und Plan Gottes akzeptierte—eine Sichtweise, die bei Zürcher Naturwissenschaftlern noch bis weit ins 19. Jahrhundert nicht unüblich war, man denke nur an den lammfrommen Professor Oswald Heer—so war Pfarrer Waser aus einem ganz anderem Holz geschnitzt.

Das Anhäufen und Ordnen von Faktenwissen…

Wird Gessner heute oft als einer der ersten modernen Wissenschaftler der Neuzeit bezeichnet, so zeichnete sich seine Arbeitsweise im Wesentlichen durch fünf zukunftsweisende Merkmale aus: (1) Er stellte eigene Beobachtungen und Versuche an, anstatt blosse Kompilationen der antiken und mittelalterlichen Literatur vorzunehmen. (2) Er vernetzte sich eng mit der europäischen Gelehrtenwelt. (3) Er legte grossen Wert auf Abbildungen. (4) Er unternahm Exkursionen zum Studium der Pflanzen und Tiere in ihren natürlichen Lebensräumen. (5) Er legte systematisch-enzyklopädische Verzeichnisse an, berühmt ist vor allem seine monumentale «Historia Animalium».

Aber die Lichtgestalt Gessner hat inzwischen doch etwas Staub angesetzt: Die Spezies des Universalgelehrten ist längst ausgestorben und beschreibende Teilgebiete der Biologie, so sie überhaupt noch an den heutigen Universitäten betrieben werden, befinden sich nunmehr seit Jahrzehnten im steten Sinkflug. Andere Domänen der Biologie—zur Zeit Gessners nannte man die Disziplin noch Naturgeschichte—haben ihnen längst den Rang abgelaufen. Dass sich die Schwerpunkte der Forschung in einem Fachgebiet innerhalb 500 Jahren stark verlagert haben, mag wohl auch kaum überraschen (obgleich wir noch heute weit davon entfernt sind, alle Pflanzen- und Tierarten der Erde entdeckt und beschrieben zu haben). Umso erstaunlicher mutet es darum aber an, dass andere Amateurforscher in der vorakademischen Zeit in Zürich Studien betrieben haben, die im Vergleich dazu gleichsam modern erscheinen.

… weicht der Gewinnung quantitativer Erkenntnis

Waser, Sohn einer wohlhabenden Bäckersfamilie, war ursprünglich Prediger von der Pfarrei zum Kreuz etwas ausserhalb der damaligen Stadt in den Gemeinden Hottingen, Hirslanden und Riesbach. Bereits als junger Pfarrer setzte er sich in der Hungers- und Inflationskrise von 1770–1771 für die Armen ein, was seinen Konflikt mit der Obrigkeit einleitete. Er erkannte früh den Wert von sachbezogenen Informationen und langen Datenreihen. Seine statistischen Analysen hatten dann entsprechend auch einen sehr angewandten Einschlag und standen oft direkt im Dienste der Volkswirtschaft. So wurde er zum Wegbereiter von Lebensversicherungen (Leibrenten) und Gebäudeversicherungen (Brandkassen). Im Idealfall sollten statistische Daten und deren Auswertung in seinen Augen aber sogar als rationale Grundlage für politische Entscheide verwendet werden: Zugunsten der Öffentlichkeit, des Rechtsstaates, der Transparenz—und gegen Willkür und Machtmissbrauch.

Solche Vorstellung liefen natürlich den ureigensten Interessen der Machteliten des Ancien Régime in Zürich zuwider. Die wirtschaftlichen, geistigen und politischen Oligarchien der Zünfte, Prediger und Vögte sahen ihre Privilegien akut bedroht. Waser wurde denn auch nach wenigen Jahren als Pfarrer abgesetzt, seine Schriften fielen zunehmend der Zürcher Zensur zum Opfer und als er darum begann, kritische Schriften in Deutschland zu publizieren, wurde er schliesslich am Morgen des 17. März 1780 im Rathaus unter Arrest gesetzt und während mehrerer Tage verhört.

Nach einem nächtlichen Fluchtversuch am 20. März, mittels zusammengeknoteter Bettlaken aus dem Fenster hoch über der Limmat, wurde er aus dem Fluss gefischt: Er konnte, wie damals üblich, gar nicht schwimmen und der improvisierte Schwimmring, den er sich aus einem hölzernen Rahmen eines Gemäldes im Rathaus fertigte, war offenbar unzureichend. Als Strafe wurde Wasser dann von der verhältnismässig komfortablen Rathaus-Arrestzelle in den Kerker im Wellenberg-Turm überführt und an Ketten gelegt. Der ehemalige Studienkollege Wasers, der inzwischen als Diakon an der Kirche St. Peter tätige Johann Caspar Lavater—ein irrlichternder Anhänger der Physiognomik und ein wundergläubiger Eiferer—wurde zu Waser in das Verlies geschickt, um ihn von seiner respektlosen Aufmüpfigkeit abzubringen. Vergebens. Neben angeblich im Zuge einer Hausdurchsuchung bei Waser gefundenen vermissten Archivalien und geheimen Staatsakten wurde ihm nun darum auch öffentlich eine Verbindung zur Abendmahlsvergiftung im Grossmünster—die Zürich einige Jahre zuvor erschüttert hatte—zur Last gelegt, ohne dass jemals Beweise erbracht worden wären.

So erinnert Wasers summarische Aburteilung und die mangelhafte Urteilsbegründung der Zürcher Obrigkeit an manchen Schauprozess aus Ländern, wo noch heute eine gezielte Rufschädigung und Diskreditierung in der öffentlichen Meinung an die Stelle einer sorgfältigen Beweisführung tritt. Als Verfechter einer evidenzbasierten Entscheidungsfindung und einer verantwortlichen Umsetzung in allen Ämtern, war Waser damit tatsächlich ein früher datengetriebener Whistleblower mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein. So wirkt er in unseren Zeiten von «Open Data» und «Good Governance»—aber eben auch von Julian Assange und Edward Snowden—noch heute erstaunlich zeitgemäss.

Post mortem: 1781 veröffentlichte der französische Finanzminister erstmals die königliche Staatsrechnung als «Compte Rendu», was einer radikalen Umkehr vom Prinzip der Behandlung von Regierungsakten als Staatsgeheimnis gleichkam. 1782 wurde der letzte Malefizprozess der Schweiz abgehalten. Opfer des Schwertes wurde nach dem Urteil des evangelischen Glarner Rats die angebliche Hexe Anna Göldi.


Verwendete Biographien aus der Zentralbibliothek Zürich mit der jeweiligen Signatur

– Bernet, Dominik (2012) Das Gesicht. Roman. Cosmos Verlag. 272 Seiten [ZB HM 63257]

– Freedman, Jeffrey (2002) A Poisoned Chalice. Princeton University Press. 236 Seiten [ZB GU 4032]

– Greminger, Ueli (2012) Johann Caspar Lavater: Berühmt, berüchtigt—neu entdeckt. Theologischer Verlag Zürich. 119 Seiten [ZB HGN 63903]

– Stückelberger, Hans Martin (1932) Johann Heinrich Waser. Dissertation Universität Zürich. 152 Seiten [ZB Un S 1932: 0707]

– Vogt, Arthur (1992) Johann Heinrich Waser: Zum 250. Geburtstag des Volkswirtschafters, Statistikers und Pioniers des Versicherungswesens am 1. April 1992. Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 128 (1): 71–84 [ZB DA 30250]

– Wottreng, Willi (2005) Revolutionäre und Querköpfe: Zürcher Schicksale. Vontobel-Stiftung. 108 Seiten [ZB GP 1234]


In unseren eigenen Seiten

Buchbesprechung des historischen Romans «Das Gesicht» von Dominik Bernet über die Abendmahlsvergiftung und die Rolle von Waser und Lavater (Vierteljahrsschrift, 158 (3–4): 54, 2013).


Weiterführende Informationen

– Mäder, Claudia (2015) Giftiges Zürich: «O Zürich! Zürich! Wie bist du gesunken!», NZZ Geschichte, 3: 58–65.

Die Abendmahlsvergiftung für eilige Leser (Wikipedia)

Lavaters aktueller Nachfolger, Biograph und Apologet (Kirchgemeinde St. Peter)


Johann Heinrich Waser (1742–1780). Bild: Hans Jakob Brunschweiler und Johann Rudolf Holzhalb.
Johann Heinrich Waser (1742–1780). Bild: Hans Jakob Brunschweiler und Johann Rudolf Holzhalb.
Ein Beispiel für ein sogenanntes Tableau von Waser. Quelle: Vogt (1992).
Ein Beispiel für ein sogenanntes Tableau von Waser. Quelle: Vogt (1992).
Hirslanden, die erste Wirkungsstätte des jungen Pfarrers mit der heutigen Waser-Strasse beim Zusammenfluss des Stöckentobelbachs (auch Elefantenbach genannt) und dem Wehrenbach. Bild: Stefan Ungricht.
Hirslanden, die erste Wirkungsstätte des jungen Pfarrers mit der heutigen Waser-Strasse beim Zusammenfluss des Stöckentobelbachs (auch Elefantenbach genannt) und dem Wehrenbach. Bild: Stefan Ungricht.
Das Rathaus von Zürich, Ort des Verhörs und der versuchten Flucht von Waser in die Limmat. Rechts das Grossmünster, wo Waser auf den Türmen eigene astronomische Studien betrieb. Bild: Stefan Ungricht.
Das Rathaus von Zürich, Ort des Verhörs und der versuchten Flucht von Waser in die Limmat. Rechts das Grossmünster, wo Waser auf den Türmen eigene astronomische Studien betrieb. Bild: Stefan Ungricht.
Wasers verkehrtes Spiegelbild: Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741–1801) befand sich wissenschaftlich arg auf dem Holzweg, war aber gesellschaftlich umso einflussreicher. Bild: Alexander Speisegger.
Wasers verkehrtes Spiegelbild: Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741–1801) befand sich wissenschaftlich arg auf dem Holzweg, war aber gesellschaftlich umso einflussreicher. Bild: Alexander Speisegger.
Nach der misslungenen Flucht verbringt Waser seine letzten Tage im Wellenberg, dem damalige Gefängnisturm in der Limmat. Bild: Johann Balthasar Bullinger der Ältere.
Nach der misslungenen Flucht verbringt Waser seine letzten Tage im Wellenberg, dem damalige Gefängnisturm in der Limmat. Bild: Johann Balthasar Bullinger der Ältere.
Das Haus, in dem Waser seine Jugend verbrachte, befindet sich an der Laternengasse, einen Steinwurf vom Grossmünster und der Limmat entfernt. Bild: Stefan Ungricht.
Das Haus, in dem Waser seine Jugend verbrachte, befindet sich an der Laternengasse, einen Steinwurf vom Grossmünster und der Limmat entfernt. Bild: Stefan Ungricht.
Die Gedenktafel wurde 1926 auf Anregung des Arztes und Kommunisten Fritz Brupbacher angefertigt. Bild: Stefan Ungricht.
Die Gedenktafel wurde 1926 auf Anregung des Arztes und Kommunisten Fritz Brupbacher angefertigt. Bild: Stefan Ungricht.

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