Einblicke
Der fast vergessene Zürcher Wissenschaftspionier: Ein Interview mit dem Biographen von Oswald Heer
Stefan Ungricht
Als armer Pfarrerssohn, der es über die High Society der Zürcher Wirtschaftswelt mit 26 Jahren zum Professor an der noch jungen Universität Zürich und später auch am neugegründeten Polytechnikum schaffte, ist Oswald Heer (1809–1883) ein äusserst vielschichtiges Studienthema. Der Vegetationskundler Conradin Burga hat nach jahrelanger Arbeit in Bibliotheken, Archiven und Sammlungen zusammen mit einem Team von Experten eine ausführliche Biographie dieses schillernden Mannes vorgelegt.
Herr Professor Burga, beschreiben Sie kurz die besondere Bedeutung von Oswald Heer. Und was können wir heute noch von Altmeistern wie ihm lernen?
Oswald Heer lebte in einer Zeit in welcher sich das «Ancien Régime» gerade verabschiedet hatte und in welcher nun das innovationsfreudige, liberale Industriezeitalter eingeläutet wurde. Das Zeitalter der Postkutschen wurde durch die Eisenbahn abgelöst. In dieser Zeit des Aufbruchs erfolgte auch ein gewaltiger Fortschritt in den Naturwissenschaften, wobei gerade auch Oswald Heer auf seinen Fachgebieten, namentlich der Paläobotanik und Entomologie, seinen Anteil beitrug. Innerhalb der Disziplingeschichte der Paläobotanik war Heer ein wichtiger Exponent der sogenannten «Heroischen Periode» (1820–1880). Von Oswald Heer als Forscher- und Gründerpersönlichkeit können wir auch heute noch einiges lernen: Innovative Ideen, wissenschaftliche Gründlichkeit, aber auch Arbeitsdisziplin, Ausdauer und Fleiss – Eigenschaften und Tugenden, die weiterhin ihre Gültigkeit haben.
Oswald Heer wurde des Öfteren mit dem gleichaltrigen Charles Darwin (1809–1882) verglichen. Ist dies aus ihrer Sicht angebracht?
Dieser Vergleich liegt tatsächlich aus verschiedenen Gründen nahe – aber er hinkt trotzdem. Obwohl Charles Darwin und Oswald Heer anglikanische bzw. protestantische Theologie in Cambridge bzw. Halle an der Saale studierten und obwohl beide Gelehrten sich dann den Naturwissenschaften widmeten, so bestehen von der religiösen Einstellung her betrachtet doch grundlegende Unterschiede. Beide Wissenschafter traf in der Familie das schwere Schicksal der Kindersterblichkeit: Charles Darwin wurde dadurch zum Agnostiker, im Gegensatz dazu behielt Oswald Heer unbeirrt seinen Gottesglauben, obwohl er den frühen Tod von drei seiner vier Kinder zu beklagen hatte. Während sich Heers Aktionsradius als Pionier der tertiären Paläobotanik der Schweiz (und später der nördlichen Polarländer) auf Europa beschränkte (seine weiteste Reise ging nach Madeira) und sich zunächst nur am Rande mit Fragen der Evolution befasste, verfügte Darwin Dank seiner knapp fünfjährigen Reise an Bord der HMS «Beagle» (1831–1836) bereits in jungen Jahren (er war bei der Rückkehr 27-jährig) über ein wesentlich weiteres Weltbild. Indem Heer seine wissenschaftlichen Studien neben vielfältigen Verpflichtungen als Doppelprofessor, Gartendirektor, Aufsichtsrat der landwirtschaftlichen Schule Strickhof und als Kantonsrat von Zürich durchführte, war Darwin Dank der Pension, die er von seinem begüterten Vater, eines Arztes und Privatbankiers, zeitlebens bezog, finanziell und auch als Eigentümer eines herrschaftlichen Hauses mit Dienerschaft südlich Londons als freier Forscher in einer wesentlich komfortableren Situation. Sowohl Heer als auch Darwin standen mit den führenden zeitgenössischen Forschern ihres Faches in Kontakt, wobei Darwin dies etwas leichter fiel, denn viele davon stammten aus dem angelsächsischen Raum in einer Zeit des nahenden Höhepunktes des «British Empire». In der Diskussion über Fragen der Evolution organischen Lebens trafen und schieden sich gleichzeitig die Geister beider Gelehrten, indem Heers religiöse Überzeugung zur erdgeschichtlichen Entwicklung der lebenden Organismen als Erklärung nur als die Wirkung der Schöpfung Gottes akzeptieren konnte (Heers Umprägungstheorie).
Sie haben sich über Jahre hinweg in die Person und das Wirken von Oswald Heer vertieft. Hat sich in dieser Zeit Ihre Einschätzung Heers geändert?
Ja. Zunächst war für mich Oswald Heer ein führender Paläobotaniker des Tertiärs, Doppelprofessor für Botanik und Entomologie an den Zürcher Hochschulen sowie dortiger Gartendirektor. Dass Heer zuvor sieben Jahre als Konservator der privaten Insektensammlung im Belvoir (Zürich-Enge) bei Heinrich Escher-Zollikofer und Privatlehrer seiner Kinder Alfred und Clementine wirkte, war mir zunächst unbekannt. Beim Lesen von Heers umfangreicher Korrespondenz mit weltweit allen führenden zeitgenössischen Wissenschaftlern seines Faches eröffnete sich mir ein kulturgeschichtliches Panorama sondergleichen zur Entwicklung der Naturwissenschaften und deren wichtigsten Exponenten des ganzen 19. Jahrhunderts. Vor allem Heers Wirken in der Landwirtschaft und im Gartenbau sowie seine politischen Aktivitäten als Zürcher Kantonsrat waren für mich neue und überraschende Facetten dieser Persönlichkeit. Dazu kommt seine ausgesprochen humoristische Ader und sein warmherziger Umgang mit den Studierenden: So soll es einmal auf einer Pferdewagenfahrt zu einer Botanik-Exkursion bei Gesang und Trunk so lustig gewesen sein, dass der Wagen die fröhliche Truppe beinahe den Hang hinuntergekippt hätte!
Welche Eigenschaft oder Leistung von Oswald Heer beindruckt Sie persönlich letztlich am meisten?
Oswald Heers grosser Leistungsausweis und seine menschlichen Qualitäten. Mehr als 300 Publikationen einschliesslich mehrbändiger monumentaler Tafelwerke. Sein populärstes Werk «Die Urwelt der Schweiz» wurde relativ kurz nach der deutschen Fassung ins Englische und Französische übersetzt und so weltweit bekannt. Und nicht zuletzt beeindruckt natürlich auch die grosse Zahl an Auszeichnungen, Orden und Ehrenmitgliedschaften, verliehen durch die bedeutendsten Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften seiner Zeit.
Die besprochene Biographie «Oswald Heer (1809–1883) Paläobotaniker, Entomologe, Gründerpersönlichkeit» herausgegeben von Conradin A. Burga erschien 2013 im NZZ Libro Verlag und kostet CHF 58.– (ISBN: 978-3-03823-747-1)
In unseren eigenen Seiten
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Neujahrsblatt 2014: Heer und Darwin
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Erdwissenschaftliche Sammlungen der ETH Zürich
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