Einblicke
Irrungen und Wirrungen: Die vermeintliche Entdeckung eines unbekannten Insektes am Greifensee
Stefan Ungricht
Bedeutende Entdeckung oder bloss Korrektur eines Buchhaltungsfehlers? Eine Pressemitteilung aus Bern sorgte neulich für Aufsehen: Vier Schweizer Insektenforscher haben in einem Sumpfgebiet am Greifensee eine für die Wissenschaft neue Wespenart entdeckt, die nun den Namen Schweizer Wespe (Polistes helveticus) erhalten hat. Das Besondere an der Geschichte: Die Schweizer Wespe gibt es hierzulande schon lange und wurde auch schon oft gesichtet – nur hat man sie fälschlicherweise für eine sehr ähnliche Art aus dem Mittelmeergebiet gehalten. Erst als die südliche Verwandte – möglicherweise aufgrund der klimatischen Veränderungen – im Norden auftauchte, wurde die Verwechslung offensichtlich.
Verwechslungen sind seit Jahrhunderten Stoff für Komödien. Man denke an Billy Wilders Filmklassiker «Some Like It Hot». Manchmal führen Verwechslungen sogar zur Entdeckung neuer Tierarten: Im konkreten Fall sogar genau weil es eine der involvierten Protagonistinnen gerne heiss mag. Aber beginnen wir von vorne.
Akt 1: Vor sechs Jahren entdeckte der Insektenforscher Rainer Neumeyer in einem Sumpfgebiet am Greifensee eine Wespe, die der Zierlichen Feldwespe (Polistes bischoffi) glich. Eine Wespe, die in Sümpfen relativ verbreitet ist. Erst als er ein zweites Exemplar fing, stutzte der Forscher: Die beiden Exemplare unterschieden sich in der Farbe ihrer Antennen. Eine hatte gelbe Antennen – bei der anderen wies die Antenne eine schwarze Oberseite auf.
Im zweiten Akt wandte sich Neumeyer an verschiedene Fachkollegen – nebst Gaston-Denis Guex von der Universität Zürich auch an die beiden Spezialisten Hannes Baur vom Naturhistorischen Museum Bern und Christophe Praz von der Universität Neuchâtel. Im Laufe der Arbeit stellten die Forscher fest, dass es sich um zwei verschiedene Arten handeln musste. Und sie stiegen in die Archive der Natur: Sie untersuchten die Sammlungen der Naturhistorischen Museen.
Dabei zeigte sich, dass es sich bei den nördlichen Vorkommen der Zierlichen Feldwespe eigentlich um eine andere Art handelt. Um den Irrtum zu verstehen, bedarf es hier einer Rückblende: In den 1930er-Jahren entdeckte der Insektenforscher Wolfgang Weyrauch in Sardinien die Zierliche Feldwespe. Spätere Funde aus Mitteleuropa zählte er ebenfalls zu dieser Art. Ein durchaus nachvollziehbarer Lapsus: Die beiden Arten unterscheiden sich nur minim.
Und im dritten Akt kommt nun die Klimaveränderung ins Spiel. Die Zierliche Feldwespe mag es nämlich gerne warm. Im Zuge der Klimaerwärmung weitete sie ihren Lebensraum gegen Norden aus und tauchte nun auch in Mitteleuropa auf. Erst dadurch, dass die «wahrhaftige» Zierliche Feldwespe in nördlicheren Gefilden auftauchte, ist den Forschern bewusst geworden, dass es hierzulande eine neue Art geben muss. Bei all den Wespen, die in den letzten Jahrzehnten als Polistes bischoffi bezeichnet wurden, handelte es sich um eine neue, unbeschriebene Wespenart. Eine kleine wissenschaftliche Sensation. Da die Wespenart in der Schweiz stark verbreitet ist, gaben sie ihr folglich den Namen Polistes helveticus – die Schweizer Wespe.
In einer Publikation in der international renommierten Fachzeitschrift «ZooKeys» ist die Entdeckung soeben bekannt gegeben worden – was vorderhand das letzte Kapitel wäre in dieser tierischen «comedy of errors».
Nachspiel: Aus der Komödie wird eine Tragödie
Wie sich nun herausstellte, war der letzte Fehler in dieser Angelegenheit doch noch nicht gemacht. Am 31. Dezember 2015 publizierte Rainer Neumeyer mit zwei Kollegen einen weiteren Artikel in einer entomologischen Zeitschrift. Diesmal war die Publikation jedoch nicht von jubelnden Medienmitteilungen begleitet, denn in diesem Beitrag wird nach bloss etwa einem Jahr der Schweizer Wespe (Polistes helveticus) ein jähes Ende bereitet. Der Grund: Da Tiere aus Kasachstan, die bereits als Polistes albellus beschrieben waren, aufgetaucht sind, und diese sich als artgleich herausstellten, musste der vermeintliche Entdecker der Schweizer Wespe nun sein eigenes Geschöpf aus Gründen der Priorität des älteren Namens synonymisieren. Die Wespenwelt ist kleiner, als man dachte.
Weiterführende Informationen
Entomologische Gesellschaft Zürich (EGZ)
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