Einblicke
«In einer unendlichen Pracht umgibt uns die Welt»: Anschauungsmaterialien eines Zürcher Professors
Stefan Ungricht
Das Leben heutiger Hochschullehrer ist bestimmt durch vielgestaltige Zwänge: Von Fakultäts- und Institutssitzungen über das Schreiben von Drittmittelanträgen bis zu Rankings und Vergleichen mit der internationalen Konkurrenz. Vielleicht war früher nicht alles besser, aber trotzdem mag es erstaunen, wie Albert Heim vor über hundert Jahren seine vielseitigen Interessen und Begabungen scheinbar spielend unter einen Hut brachte.
Albert Heim (1849–1937) wurde im Alter von 23 Jahren Professor für Geologie am Polytechnikum (Jahresgehalt 3’800 Franken) und wenig später auch an der Universität Zürich. 1875 heiratete er die über drei Jahre ältere erste Schweizer Ärztin Marie Vögtlin, die ein Jahr zuvor eine Gynäkologie-Praxis in Zürich eröffnet hatte. Heim hatte schon bald den Ruf ein unkonventioneller und engagierter Lehrer zu sein. So waren etwa seine Exkursionen in den Alpen geradezu legendär und für seine Vorlesungen in Zürich stellte er eine neuartige didaktische Lehrsammlung mit Anschauungsmaterial für die Studierenden zusammen. Diese Sammlung umfasste etwa 1’500 Objekte, namentlich Gesteine, Fossilien und Mineralien und wird heute in den Erdwissenschaftlichen Sammlungen der ETH aufbewahrt. In einem kürzlich veröffentlichten Online-Katalog werden nun zahlreiche Objekte gezeigt, die mit Hilfe einer herkömmlichen Digitalkamera und einem Drehteller aus jeweils 36 Winkeln fotografiert wurden. Dies ermöglicht es jetzt dem Nutzer in seinem Internet-Browser nicht bloss in diese ausgewählten Handstücke hinein zu zoomen sondern sie auch zu drehen und so von allen Seiten zu betrachten.
Albert Heim ist heute tatsächlich vor allem noch als Geologe bekannt. Seine vielfältigen Begabungen waren aber insbesondere auch musischer Natur. So hatte er ein offensichtliches Zeichentalent und sein Stil der wissenschaftlichen Geländeskizzen beeinflusste denn auch verschiedene Schweizer Geographen und Erdwissenschaftler wie Eduard Imhof (1895–1986), Augusto Gansser (1910–2012) und Rudolf Trümpy (1921–2009). Überhaupt war die Anschauung von Landschaften und die Beobachtung von Naturphänomenen eines seiner Hauptanliegen und so erstaunt es nicht, dass er ein wichtiger Förderer der Gebirgsrelief- und Panorama-Kunst wurde. Berühmt ist zum Beispiel sein gebogenes Zürcher Alpenpanorama aus dem Jahr 1890.
Seine Lust die Erde aus allen Perspektiven zu erleben trieb ihn unweigerlich in die Höhen der Alpen und liess ihn auch vor Risiken nicht zurückschrecken. Sein im Jahrbuch 1891/1892 des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) abgedruckter Vortrag über Nahtoderfahrungen bei Bergsteigerabstürzen hat weit über die Schweiz hinaus ein grosses Echo ausgelöst und gilt heute als Klassiker der sogenannten Studies of near-death experiences (NDE). Die Alpen, sein Hauptarbeitsgebiet, hat er 1898 aber auch als kühner Ballon-Fahrer an Bord der «Wega» erkundet. Der sachlich-nüchterne Bericht über die Pioniertat wird dabei vom persönlich-emotionalen Eindruck dieser Erfahrung kontrastiert:
«In einer unendlichen Pracht umgibt uns die Welt, und im Vordergrund aller Gefühle steht die staunende Bewunderung. Niemand kann Worte finden, dieses selige Geniessen im Schauen zu schildern. Man ahnt auf dem Boden unten nicht, wie schön dies Gewebe von Wald und Wiese, von Feld und Wasser, Berg und Thal, Fels und Schnee ist, wie duftend, wie freundlich und lieblich Dörfer und Städte aussehen, als wäre in ihnen eine Sünde unmöglich, und wie freundschaftlich und traulich die Strassen und Wege die Wohnstätten der Menschen miteinander verbinden. Es ist wie eine herrliche Dichtung, was unter unserm Auge vorüberzieht. Ja, ich erkenne die Dörfer, die Thäler, die Berge, sie sind mir ja alle vertraut, aber sie sind doch anders, sie sind wie verklärt, so rein, so farbenduftig. Ist alle diese Pracht wirklich Wahrheit? Ich taste am Fahrkorb, an den Seilen, ich taste an den Gefährten, um zu versuchen, ob ich vielleicht blos in einem schönen Traume schlafe, oder ob greifbare Wirklichkeit mich umgebe. Im Schauen gebannt ist es schwer, anderes über die Lippen zu bringen, als nur beständige Ausrufe der Bewunderung und des Entzückens. Ich habe es gesehen, wie manche in eine Art Glücksrausch, in ein Gefühl unaussprechlicher Seligkeit verfallen. Manche lachen, andere weinen, wieder andere werden stumm. Es ist schwer, den Geist zu wissenschaftlichen Beobachtung zu sammeln. Man darf fast sagen: vor Staunen und Entzücken steht der Verstand einem still. Die paar Stunden sind verronnen wie ebenso viele Minuten. Wir haben auf manches Einzelne genau geachtet, aber in einer Art Sinnesbetäubung durch die Pracht habe ich trotz Vorsatz noch viel mehr zu beobachten übersehen. Das Entzücken lähmt. Ich glaube, der Dichter ist einmal im Ballon gefahren, der den Adler hoch in den Lüften sagen lässt: Ach währte doch immer das stolze Glück, ach müsst’ ich doch nimmer zur Erde zurück!»
Albert Heim war Präsident der NGZH von 1878 bis 1880 sowie von 1886 bis 1888.
Weiterführende Informationen
Ausstellungsführer
Die Reliefsammlung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich
Digitalisate
Die Fahrt der ‘Wega’ über Alpen und Jura, Schwabe Verlag, Basel (1899)
Geologie der Schweiz, Tauchnitz Verlag, Leipzig (1919–1922)
Biographien
– Marie Brockmann-Jerosch, Arnold Heim & Helene Heim (1952) Albert Heim: Leben und Forschung. ETH Zürich, Bibliothek Erdwissenschaften, Bb 75.
– Verena E. Müller (2008) Marie Heim-Vögtlin—Die erste Schweizer Ärztin (1845–1916): Ein Leben zwischen Tradition und Moderne. ETH Zürich, Bibliothek Erdwissenschaften, Bb 147.
– Bernhard Hubmann (2009) Die grossen Geologen. ETH Zürich, Bibliothek Erdwissenschaften, Bb 160.
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